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Poly zwischen Windeln und Sexarbeit

Eveline (sie/ihr) ist 35 Jahre alt, lebt mit ihren beiden Kindern und ihrem Partner in einer der grösseren Schweizer Städte. Sie lebt poly und ist Sexarbeiterin. Wir haben sie besucht, um bei Kaffee und Chai-Tee zwei Stunden lang über Polyamorie, Muttersein und alternative Lebensformen gesprochen. Eveline hat ein sehr ansteckendes Lachen und eine erfrischende Art zu erzählen. Ich habe noch lange über dieses Gespräch sinniert und mich über die neuen Gedanken und Sichtweisen gefreut.

Wie würden deine besten Freunde dich beschreiben?

Ich glaube sie würden sagen, dass ich auf eine gewisse Art eigen bzw. einzigartig bin. Dass ich eine herzliche, lustige und hilfsbereite Person bin, die voll ihren eigenen Weg geht. Also schon ein Mensch, der auch eigenwillig ist und Dinge auf seine eigene Art sieht und macht.

Ich selbst habe manchmal ein wenig eine Blindheit in Bezug auf mich selbst. Ich bin oft so sehr auf mich selbst fokussiert, dass ich gar nicht sehe wie das von aussen wirkt. Dass ich irgendwie ein ziemlich schräges Leben führe. Da fehlt mir teilweise ein wenig der Realitätsbezug, weil ich in meiner eigenen «Bubble» lebe. Ich glaube ich fühle mich normaler als mich andere vermutlich sehen.

Beschreibe deine momentane Beziehungsform / wie ist deren Ausgestaltung?

Ich definiere mich selbst nicht so sehr über meine Beziehungen. Gleichzeitig bin ich seit 5 Jahren mit dem Vater meiner Kinder in einer Beziehung und wir wohnen seit 4 Jahren zusammen. Daher lebe ich schon in einem relativ insularen Familienmodell und habe relativ wenig Zeit zum Daten. Ich lebe aktuell nicht in anderen Beziehungen und ich bin Sexarbeiterin. Unsere Form der Beziehung bezeichnet sich dadurch, dass es grundsätzlich keine / wenig Regeln zum Thema Sex und Emotionen gibt. Aber wir haben viele Regeln zum Thema Zeit (und Verantwortung). Also: Inwiefern wir unsere Zeit einteilen. Denn mit Kindern gibt es so wenig Zeit, die überhaupt zur Verfügung steht. Das ist auch ein Knotenpunkt in unserer Beziehung: Wie viel dieser wenigen Zeit, die wir zu viert haben, wollen wir überhaupt ausserhalb verbringen?

Wie geht ihr mit der Frage der Exklusivität um?

Durch die Familie hat sich diese Frage gewissermassen erübrigt. Ein Kind bringt andere Dynamiken ins Beziehungsgeschehen. Man hat zusammen dieses Kind-Projekt mit viel Verantwortung und dann gehören beispielsweise plötzlich Grosseltern / Götti’s etc, auch zum näheren System. Üblicherweise sind vor allem Sexualität / Intimität bei Beziehungen wichtige Bezugspunkte, ein Kind bringt da noch eine zusätzliche Dimension mit. Als Sexarbeiterin bin ich zudem oft nahe am Menschen, habe intensive Begegnungen und erlebe viel Nähe, und meine Bedürfnisse nach Aussenbeziehungen sind entsprechend geringer.

Wie bist du zur Polyamorie gekommen?

Als Teenager hat es in meinem Umfeld viele Dramen rund um das Thema Fremdgehen gegeben, die Spannung empfand ich immer als immens unangenehm. Und da war für mich früh klar, dass ich das nicht so leben will.

Ich hatte allerdings früh schon Gedanken dazu, wie ich denn ein Kind haben könnte und hatte dann irgendwelche Ideen wie z.B. von einem alten Mann geschwängert zu werden und dann nebenan zu wohnen. Oder ich heirate eine Kollegin und so können wir weiterhin Sex haben mit wem wir wollen. Ich hatte schon früh solche Einfälle zu Mehrfachbeziehungen und verschiedenen Partner*innen.

Mit 20 Jahren habe ich BDSM und Polyamorie entdeckt und das von dem Moment an auch übernommen.

Es kam zwischenzeitlich noch eine ziemlich klassische monogame Beziehung, welche wir später zu öffnen versuchten (u. a. aufgrund meines Bedürfnisses nach Kink und SM). Das hat nicht gehalten und seither bin ich nicht mehr in klassischen Beziehungen unterwegs.

Einige Versuche mit eher monogam geprägten Partner*innen Beziehungen zu unterhalten hat sich als schwierig erwiesen. Diese Idee ist meistens dann verlockend, wenn man single-poly ist, weil man sich nicht von bestehenden Partner*innen trennen müsste dafür.


Manche Menschen haben auch wenig Verständnis dafür, wie viele Zusammenhänge sich im Hintergrund von einem polyamoren Leben abspielen können. Ich glaube das ist auch ein wenig ein male-priviledge Ding, dass gewisse Männer sich als diese alleinagierenden Individuen sehen, die dieses sich-mitbewegende Mobilé im Hintergrund nicht sehen und sagen: «Ich bin poly und ich mache, was ich will.» Leider sind das oft auch sehr attraktive Leute (lacht), die das dann auch können und damit durchkommen.

Was bewegt dich darin zu bleiben?

Meine persönliche Sanity (lacht). Es geht mir einfach nicht in meinen Kopf in einem monogamen Setting zu leben. Es fühlt sich an wie eine sinnlose Unterdrückung, als wäre eine Beziehung eine Religion oder ein Ritual, völlig befreit von rationalen Regeln. Da habe ich einfach keinen Bezug dazu.

Zudem ist Sexualität sehr wichtig für meinen Lebensentwurf, es ist ja schliesslich auch mein Job. Ich brauche Abwechslung und Erlebnisse, das ist für mich auch ein emotionales Ding. Ich bin gar nicht so sexgeil, wie viele vielleicht meinen. Ich habe wahrscheinlich gar nicht so viel Sex wie andere Menschen. Aber ich verstehe nicht, warum ich etwas nicht haben kann, wenn ich es gerne möchte. Diese konditionierte christliche Sexualmoral ist (zumindest für mich) nicht intrinsisch. Mein Partner sieht das sehr ähnlich.

Was sind deine Herausforderungen an der nicht-Monogamie?

Wenn mein Partner ein Date hat und mit dieser Person Fleisch isst! Vielleicht weil es ein Lusterlebnis ist, zu welchem ich mir selbst keinen Zugang gebe, es aber gesellschaftlich etwas ist, das man miteinander teilt.
Jetzt gerade haben wir (mein Partner und ich) es supergut zusammen. Vor etwa einem Jahr war es ein wenig schwieriger. Ich hatte mehr zeitliche Ressourcen und grosse Lust wieder mehr zu daten. Wir hatten eine Auseinandersetzung, weil mein Partner es keinen guten Moment dafür fand.

Zu einem späteren Zeitpunkt hatte dann mein Partner viele Dates. Er ging einmal die Woche dort schlafen, war wenig zuhause und es fühlte sich an als würde ‚der Spass‘ ausgesourct. Es ist dann aber überhaupt nicht in meiner Natur dann zu sagen: «Nein, mach das nicht.» Es fühlte sich ein bisschen nach einer Flucht nach aussen an, weil die Leute ausserhalb halt nicht in diesen Alltagsdramen drin sind. Aber jetzt ist es viel entspannter, da bin ich auch mal froh, wenn mein Partner eine Nacht weg ist und ich Netflix suchten kann. Corona hat da auch etwas Entspannung reingebracht, weil unsere Kalender nicht mehr so randvoll sind.

Was bedeutet deine Beziehungsform für dich als Mutter?

Das gesellschaftliche Skript sagt eigentlich: Job, Liebe, Heirat und dann Kinder. Die Besitzansprüche eine Mutter an das Kind sind eigentlich auch gesellschaftlich vorgegeben. Ich sehe Erziehung als Communitysache. Ich habe nicht das Gefühl, dass diese Kinder mir gehören. Der Polygedanke überträgt sich gewissermassen auch auf die Beziehung mit den Kindern. Ich möchte, dass meine Kinder auch ein System von geliebten Menschen um sich haben. Kinder können sich in verschiedenen Beziehungen völlig anders bewegen. Sie gehen Fisch essen mit XY und raufen herum mit YZ. Das Bild der Mutter, die sich dann völlig für ihre Kinder aufopfert, passt irgendwie nicht zu mir. Ich bin verantwortlich für meine Kinder, aber sie gehören nicht mir.

Und dennoch ist die Bindung der Mutter eine ‚force to be reckoned with‘. Ich habe selbst viele Dinge traditionell gemacht, weil ich wollte, dass meine Kinder einen geborgenen Start ins Leben haben. Das geschah aber immer auch aus eigenem Wunsch heraus.

Welche Eigenschaft von dir ist essentiell für deine Beziehungsform?

Schwierige Frage. Ich glaube der Leidensdruck wäre bei mir zu hoch, um es anders zu machen. Ich würde gerne nach den gesellschaftlichen Regeln gehen, aber sie sind einfach alle so blöd (lacht). Eine Freundin von mir meinte letztens, ich hätte ein Autoritätsproblem (lacht wieder). Ich glaube es ist eine Grundlage, dass ich das wirklich so möchte.
Ich habe die Überzeugung, dass wir alle ein Teil von einem grossen Netzwerk sind. Und uns alle als Individuen mit eigenen Bedürfnissen zu sehen sind. Das hat etwas von Ego-Befreitheit. Was Menschen tun hat mit ihnen zu tun und nicht mit mir. Ich möchte meine Mitmenschen als emotionale, eigene Wesen sehen. Ich will mich selbst als sexuell autonomes Wesen und somit meine Partner*innen auch.

Welche bereitet dir eher Mühe in deiner Beziehungsform?

Meine Spassgetriebenheit. Es ist einfacher tolle Sachen zu unternehmen und andere Leute mit meinem Profil als Mensch zu beeindrucken, statt mit dem Bestehenden zu dealen (lacht). Zudem ziehe ich manchmal sehr viel Bedeutung und Selbstwert aus Beziehungen, was mich emotional stark absorbieren kann. Ich bin ein wenig eine Träumerin und lasse mich stark von diesen Fantasien ziehen. Diese gehen dann manchmal über das hinaus was im Moment überhaupt ‘ist’.

Was bist du am Lernen?

Ein grosses Thema für mich ist momentan: Ich möchte Lebendigkeit und Community leben, in welcher Form auch immer. Es wäre schön, könnte da der romantische Aspekt integriert sein – muss aber nicht. Aber ich möchte mich noch mehr als Teil eines Netzwerkes fühlen. Ich möchte diesen Gedanken weiterdenken.

Wie geht dein Umfeld mit deiner Beziehungsform um?

Noch schwierig zu sagen. Meine besten Freundinnen waren halt auch voll mit mir auf dieser Reise. Sie haben meinen psychedelischen Zerfall mitbekommen – erst BDSM und dann wird sie auch noch Veganerin (lacht) – und haben sich damit arrangiert.

Das vereint sich sehr mit der Thematik rund um meinen Job. Für meine Familie ist es beispielsweise nicht wichtig, mit wem mein Partner und ich sonst noch Sex haben, sondern eher, wer sozial in unsere “chosen family” gehört. Es ist eher ein Thema, dass ich Sexarbeiterin bin. Da wähle ich aus, mit wem ich worüber rede. Ich habe inzwischen ein gutes Gefühl dafür, wem ich wann was über mein Leben sage. Ich bin bislang nicht auf grosse Ablehnung gestossen. Das bin so fest «ich», dass es da auch nicht so viel dagegen anzukämpfen gibt. Eigentlich geht es ja niemanden etwas an und es braucht in diesem Sinne vielleicht gar kein Coming-Out. Sex ist etwas Privates und sollte auch etwas Privates bleiben.

Was würdest du dir von deinem Umfeld wünschen?

Grosszügigkeit. Je mehr Grosszügigkeit, desto besser. Zum Beispiel sollte es verboten sein, dass Spielsachen auf einem öffentlichen Spielplatz nicht geteilt werden, denn dort fängt. Eine Auflösung von meins, deins und unseres.

Was würdest du Menschen mitgeben, die auf einem ähnlichen Weg sind? Was hättest du dir gewünscht?

Ich spreche oft vom «Polymuskel», den man trainieren muss. Man gewöhnt sich mehr und mehr daran, die Polythemen zu wälzen. Man kann lernen, dass was andere Menschen tun, mit ihnen zu tun hat, nicht mit einem selbst.

Ah und: Nehmt eure sexuellen Bedürfnisse ernst!

Community, Erfahrungsberichte, Familie & Kinder, Sex


Viola

Will sich bewusst dafür entscheiden, welche Denkmuster sie in ihrem Leben anwendet. Ist Feministin und möchte nie aufhören sich zu überdenken. Fühlt viel und gerne. Liebt neue Ideen, empathische Menschen, gute Bücher, sinnliche Berührungen und philosophische Gespräche bei einem Glas Wein.